
Egozentrik und geringes Selbstwertgefühl – zwei Seiten derselben Medaille?
Das Wort Egozentrik kommt aus dem Lateinischen und wird von ego (ich) und centrum (Mittelpunkt) hergeleitet. Wie die beiden Einzelteile des Wortes andeuten, geht es dabei darum, sich selbst im Mittelpunkt zu sehen und andere Dinge und Menschen an sich selbst und der eigenen Perspektive zu messen.
Dies äußert sich darin, seinen eigenen Standpunkt als den einzig richtigen zu sehen. Sätze wie „Es gibt keinen Zusammenhang“, weil sie diesen selbst nicht sehen können, charakterisieren Egozentriker. In Krisen bedeutet dies auch, dass sie sich unter keinen Umständen helfen lassen können, da sie davon ausgehen, dass nur sie selbst ihr Problem lösen können und sonst keiner. Dieser Umstand, etwas nicht lösen zu können, führt meist dazu, dass sie an der Stelle steckenbleiben.
Selbstwert wiederum bezeichnet die Bewertung, die man sich selbst gibt. Folgerichtig wäre zu sagen, geringes Selbstwertgefühl bezeichne eine niedrige Bewertung des Selbst. Dies äußert sich darin, ein eifersüchtiger oder neidischer Mensch zu sein – alle anderen sind besser. In jeder Situation, jeder anderen Person sieht dieser Mensch mit geringem Selbstwertgefühl die Gefahr, den Partner zu verlieren. Allein zu sein ist für solche Menschen ebenfalls schwer, da sie von ständiger Aufmerksamkeit abhängig sind – oder anders formuliert – es unerträglich für sie ist, mit sich selbst alleine zu sein. Die Sprache von Menschen mit geringem Selbstwertgefühl ist gekennzeichnet durch Pessimismus und Kritik. Diese richtet sich in der Interaktion mit anderen natürlich auch gegen andere. So unperfekt wie dieser sich selbst fühlt, so behandelt er auch seine Umgebung. Menschen mit geringem Selbstwert sind empfänglich für Kompensationshandlungen oder Sucht.
Bei der Betrachtung dieser beiden geläufigen Definitionen von Egozentrik und geringem Selbstwert scheinen die beiden Phänomene sehr weit voneinander entfernt zu sein. Die einen beziehen alles auf sich, sind allwissend, so als seien sie die besten und verdienten von allem das Beste. Die anderen achten sich selbst und damit auch andere gering, glauben nicht an sich und vernachlässigen sich sogar zu einem gewissen Grad.
Die beiden Phänomene sind so weit entfernt, dass ein geschultes kritisches Auge sich vielleicht fragt, ob sie nicht auffällig weit voneinander entfernt sind. Können sie nicht sogar gegenüberliegende Pole auf einer Skala sein? Wo ein Extrem ist, findet sich auch das gegenüberliegende Extrem – ein Zwilling kommt selten allein.
Um solch eine Skala benennen zu können, müsste man die gemeinsame Grundqualität der beiden gegenüberliegenden Pole finden – den gemeinsamen Nenner. Hierfür ist ein gewisses Eingeständnis nötig, nämlich, dass die Phänomene Egozentrik und geringes Selbstwertgefühl lediglich die Oberfläche kratzen. Sie sind quasi der Zähler.
Im Nenner befindet sich die Gemeinsamkeit beider Phänomene: ein schwach entwickeltes Selbst, das nicht zulässt, sich in andere hineinzuversetzen, Erlebnisse und Aussagen anderer zu relativieren, zu reflektieren und im größeren Zusammenhang als das Selbst zu sehen.
Eine weitere Facette des gemeinsamen Nenners ist fehlende Anerkennung des inneren Kindes, das bis heute noch die Bestätigung sucht, die es damals gebraucht hätte, die irgendwo zu kurz gekommen ist. Entweder versteckt in dem einen Extrem, einer Übertreibung des gewünschten Du-bist-gut-so-wie-du-bist oder versteckt im anderen Extrem Du-bist-sowieso-nicht-gut-genug. Hinter fehlender Anerkennung verbirgt sich erfahrungsgemäß meist das Gefühl, nicht geliebt zu werden. Das größte Trauma, das überhaupt existiert.
Was kann diesen Menschen außer der Verarbeitung des ursprünglichen Traumas helfen? Liebe. Und zu viel Liebe gibt es dabei nicht. Da zusätzlich die Betroffenen nicht die Fähigkeit besitzen, zu reflektieren, zu relativieren sowie Geschehen im großen Ganzen einzuordnen, kann es große Entwicklungssprünge mit sich bringen, die Personen liebevoll zu konfrontieren, ja, ihnen den Spiegel vorzuhalten. Liebevoll deshalb, da es schwer ist, einen egozentrischen Menschen, der einen vielleicht gerade gekränkt hat, liebevoll zu behandeln, anstatt ihm mit Vorwürfen und Streit zu begegnen. Dasselbe gilt auch für das andere Extrem, bei dem man vielleicht geneigt ist, genervt zu reagieren. Geduldvolles und liebevolles Spiegeln der Situation aus eigener Perspektive kann sehr hilfreich sein. Immer mit dem Fokus, Es-ist-gut-so-wie-du-bist zu vermitteln.
Eine tolle Übung zum Abschluss: gemeinsam ein Bild anschauen. Stumm und für mindestens 5 Minuten. Danach sich gegenseitig erzählen, welches Erlebnis man hatte mit demselben Bild. Keine Diskussion, nur wertschätzender Perspektivwechsel.